«Quasi-Risikosport»: Feierabend-Seilschaften erobern Kletterhallen

Sportklettern boomt, überall entstehen neue Hallen und Wände. 2020 könnte das Ganze sogar olympisch werden - der Sport steht auf der Kandidatenliste des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).

Die Kombination aus Kraft und Akrobatik ist es, die Toni Lamprecht immer wieder an die Wand treibt. «Wir wollen austesten, wo unsere Grenzen sind», sagt Lamprecht, der die schwersten Kletterrouten der Welt knackte und Hunderte von Erstbegehungen hinter sich hat. Der 40 Jahre alte Bayer erlernte den Sport in den Alpen - in die Halle gingen Kletterer wie er früher nur, um für draußen zu trainieren. Inzwischen ist alles anders - Klettern ist zu einem angesagten Indoorsport mutiert. «Heute sind ganz andere Leute in den Kletterhallen. Die betreiben eine Fitnesssportart», sagt Lamprecht.

Immer mehr Menschen hangeln sich nach Feierabend an bunten Griffen hoch. Mindestens 400 000 aktive Sportkletterer zählt der Deutsche Alpenverein (DAV), die Zahlen haben sich innerhalb von fünf Jahren fast verdoppelt. Ein Ende des Trends ist derzeit nicht in Sicht. 2020 könnte Klettern sogar bei den Olympischen Spielen dabei sein. Immerhin steht der Sport schon als Kandidat auf der «Short List» des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).

Überall in Deutschland sprießen neue Hallen aus dem Boden, es gibt Kletterwände in Kindergärten und Schulen, an Silos und Schornsteinen. Der neueste Trend heißt dabei Bouldern, Klettern also auf Absprunghöhe mit Matten darunter. «Beim Bouldern reizen akrobatische Züge und gewagte Sprünge an weit entfernte Griffe», erklärt Lamprecht die Faszination. Der Boulder-Experte gehörte in den 1990er Jahren zu den Kletterpionieren. Als er und seine Freunde mit Matratzen in den Wald liefen, wurden sie zunächst belächelt.

Mittlerweile gibt es sogar Hallen, in der kein einziges Seil mehr hängt, sondern ausschließlich Boulderer unter den Überhängen baumeln oder ihre Füße höher als die Hände setzen. Für Ansgar Thiel, der in Tübingen das Institut für Sportwissenschaft leitet, spiegelt die neue Sportart die Entwicklung der Gesellschaft wider. «Klettern ist sehr individualistisch, das passt in unsere Zeit.»

Bei Mannschaftssportarten brauche man meist einen Verein und etwa gleich gute Partner, meint Thiel. Beim Klettern hingegen könnten Menschen auf unterschiedlichem Leistungsniveau zusammen trainieren. Schon Kinder ab sechs Jahren hängen an den Plastikgriffen - außer Gurt, Schuhen und einem Seil wird nichts benötigt.

Und trotzdem: «Klettern ist eine Quasi-Risikosportart und noch immer mit der Kultur der Gefahr verbunden», sagt Thiel. Wer jedochnicht den Weg in die Natur suche, wo eher gefährliche Situationen drohten, gehe kaum ein Risiko ein. Das bestätigt Thomas Bucher vom DAV: Trotz der Höhe - Kletterwände sind bis 30 Meter lang - passiere sehr wenig. «Im Fußball ist das Verletzungsrisiko höher.»

Viele Feierabend-Kletterer bleiben zum größten Teil in den leicht erreichbaren und relativ sicheren Hallen. «Bisher stelle ich nicht fest, dass sie in Massen in die Natur einfallen», berichtet Lamprecht. Draußen sei der Boden oft staubig, die Luft kalt, die Felsen nass und der Weg zum Klettergebiet anstrengend. Ohnehin ist die Felsfläche in Deutschland sehr begrenzt. Neue Wände können, auch wegen des Umwelt- und Naturschutzes, kaum noch erschlossen werden. Nur an einigen Steinbrüchen werden derzeit neue Routen geschlagen.

Einen neuen Schub könnte Klettern durch das IOC bekommen. Chancen für einen Platz bei den Sommerspielen 2020 haben die Disziplinen Lead (alleine mit Seil), Speed (die Sportler klettern nebeneinander auf Geschwindigkeit) und Bouldern. Wolfgang Wabel, Präsident des Europäischen Kletterverbandes ECSC, hat das Jahr 2012 als «Werbe-, Lobby- und Testjahr für Olympia» umschrieben. Die Entscheidung über eine Aufnahme ins olympische Programm wird im Herbst 2013 getroffen.

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