Wer will schon Windeln wechseln? - Altenpfleger mit Imageproblem

Wenn sich der Kreis schließt, alte Menschen so pflegebedürftig werden wie Babys, dann sind Altenpfleger gefragt. Davon gibt es aber nicht genug - und der Mangel wird immer größer. Bielefeld (dpa) - Sie tut alles für ein Lachen, auch eine Arbeit, die zu wenige machen wollen: Kirsten Kausch pflegt alte Menschen. Sie ist examinierte Altenpflegerin und seit 20 Jahren im Beruf. Leid und Tod, Stress, Zeitdruck. Warum sie sich das antut? «Die alten Menschen geben mir etwas zurück, wenn sie sich bedanken oder wenn sie lachen.»

Wenn sich die Voraussagen der Experten bewahrheiten, wird es in Deutschland künftig viel zu wenige Menschen wie Kausch geben. Das Statistische Bundesamt erwartet, dass im Jahr 2025 bundesweit 150 000 Mitarbeiter in der Kranken- und Altenpflege fehlen werden. Grund ist vor allem der steigende Anteil alter Menschen.

Sieben Uhr, Schichtwechsel im Marie-Schmalenbach-Haus in Herford (Nordrhein-Westfalen). Etwas müde gibt die Nachtschicht die wichtigsten Informationen an Kirsten Kausch weiter. Frau Meier hat gut geschlafen («Zum Glück»). Die Salbe für Frau Schmidt ist endlich da. Insulin-Spritze für Frau Müller ist heute nicht nötig. Herr Albrecht hat ein rotes Auge, will aber nicht zum Arzt. Der «Neue» braucht einen Strohhalm zum Trinken. Kausch macht sich Notizen, steckt den Zettel in die Tasche. Der Arbeitstag beginnt.

Im Marie-Schmalenbach-Haus wohnen 80 ältere Menschen in acht Wohnungen. Es ist eine Mischung aus Heim und betreutem Wohnen, Hausgemeinschaft nennt sich das Modell. Die Senioren haben ihr eigenes Zimmer mit ihrer persönlichen Einrichtung. Herz jeder Wohnung ist die Wohnküche. Hier wird das Essen zubereitet, gegessen, geredet, wie in einer großen WG.

Kausch ist für zwei Wohnungen zuständig. Der Tagesplan verrät ihr, wer heute zum Arzt muss, welche besonderen Behandlungen angesetzt sind. Der Praktikant, der Frau Möller zum Arzt begleiten soll, wird eingewiesen. Kausch verteilt Medikamente am Frühstückstisch, schlaftrunken sitzt Herr Schwarz am Tisch, während die Pflegerin seinen Blutzuckerspiegel misst. «Oh prima, alles gut.»

Auf dem kurzen Weg zur zweiten Wohnung bedauert Kausch, dass es keine Zivildienstleistenden mehr gibt. «Jetzt müssen wir jedes Mal Angehörige aktivieren oder Praktikanten mitschicken, wenn die alten Menschen zum Arzt müssen.» In der Wohnung läuft Frau Hartmann unruhig umher, sie sucht eine ihrer Strumpfhosen.

Frau Baier zieht heute um, vom 1. Stock in das Erdgeschoss. «Als sie hierherkam hieß es, sie soll fixiert werden», erzählt Kausch. «Dann haben wir mit ihr gearbeitet, sie nach und nach mobilisiert. Jetzt läuft sie herum und ist kaum noch im Heim zu halten.» Darumzieht Frau Baier in den «geschützten Bereich», das heißt, sie kann das Haus nicht alleine verlassen. Frau Baier ist nämlich inzwischen sehr vergesslich, auch ihren bevorstehenden Umzug hat sie schon vergessen. «Umzug? Aha.»

Einem Menschen auf die Beine zu helfen, gehört zu den Grundanliegen im Heim. Die Anreize dafür fehlen aber weitgehend. Denn die zusätzliche Arbeit der Mobilisierung geht vom allgemeinen Zeitbudget ab, wird kaum honoriert. Außerdem garantiert Bettlägerigkeit eine höhere Pflegestufe und damit mehr Geld von der Pflegekasse.

Und für die Pfleger bedeutet Mobilisierung eine ständige Gratwanderung. Werden Patienten länger fixiert, ist dazu ein Gerichtsbeschluss notwendig. Dann kann der Mensch fixiert werden, muss aber nicht. Geht dann etwas schief, können Heim oder Pflegerin zur Verantwortung gezogen werden. «Da hat man manchmal schon Angst, dass etwas passiert», sagt Kausch. «Wir müssen jede Maßnahme dokumentieren, um uns abzusichern.»

Am Bett von Frau Peter hängen Familienbilder. «Sie wird zwar künstlich ernährt, aber manchmal isst sie auch etwas», sagt die Pflegerin. «Wir versuchen immer mal, ihre Geschmackssinne zu reizen.» Manchmal ist Frau Peter kaum wachzukriegen, an einem anderen Tag sind sogar kleine Unterhaltungen möglich.

Inzwischen ist es fast halb neun. Kausch spricht viel mit der 73-Jährigen, die an Parkinson leidet. Sie sagt ihr immer vorher, was sie gleich tun wird, damit die Frau nicht erschrickt. Etwa wenn sie sie mit einem Waschlappen wäscht, ihren Rücken rubbelt und massiert. «Das mag sie besonders», weiß Kausch und richtig, Frau Peter brummt und gurrt genüsslich.

Die Windel wird gewechselt, ein Verband ebenso. Nach und nach wird Frau Peter angezogen. Aufsetzen, Wechsel in den Rollstuhl, Haare kämmen. Manchmal verkrampft Frau Peter so stark, dass die Pflegerin die Zahnprothese nicht einsetzen kann. Im Gemeinschaftsraum wird Frau Peter gefüttert, sitzt zusammen mit einigen anderen Frauen. Gegen 12.00 Uhr bringt Kausch sie wieder ins Bett. Die 73-Jährige wird wieder an die künstliche Ernährung angeschlossen. Viel Arbeit für ein bisschen Normalität.

Fast jeder Handgriff wird dokumentiert. Endlose Tabellen geben Möglichkeiten vor. Zu jedem ihrer 22 Schützlinge muss etwas geschrieben werden: Trinkprotokolle, Ernährung, Bewegung, Medikamente, Vitalwerte wie zum Beispiel Blutzucker, Aktivitäten, Gespräche, Risikoanalyse usw. «Manchmal geht fast die Hälfte der Arbeitszeit für Bürokratie drauf», sagt Kausch. «Man müsste viel mehr Zeit haben, um mit den Menschen zu reden und ihnen zuzuhören.»

Der Gemeinschaftsraum füllt sich. Einige sind noch beim Frühstück, aber schon weht der Duft von Fisch und Kartoffeln durch den Raum. Eine Frau fragt, wer der «Neue» da ist. Der Besucher stellt sich vor, eine muntere Unterhaltung entspinnt sich. Zu jedem Stichwort fällt ihr ein anderes Lied ein, sie singt, scheinbar unerschöpflich wie ein Musikarchiv. Andererseits fragt sie alle paar Minuten, wer denn bloß der «Neue» da ist.

Weiter ins Zimmer von Herrn Schreiber. An der Wand hängt eine Urkunde für das 30. Sportabzeichen in Gold. Das war 1998. Jetzt liegt der 80-Jährige abwesend im Bett. Er war Akademiker, jetzt hat er Alzheimer. Seine gleichaltrige Frau besucht ihn jeden Tag, sie hat es einfach nicht mehr geschafft, ihren Mann zu Hause zu pflegen, sagt Kausch. Er ist ängstlich und verkrampft. Beruhigend redet Kausch auf ihn ein. «Wenn er zu viel Angst hat, haut er schon Mal um sich.»

Nach dem Waschen und Anziehen schiebt die Pflegerin den Mann mit dem Rollstuhl ins Bad, ermuntert ihn, sich selbst die Zähne zu putzen. Heute macht er mit. Kurze Augenblicke der Autonomie. Das zum Ausspülen gedachte Wasser schluckt er runter. Er schaut in den Spiegel. Was sieht er? Kausch beugt sich zu ihm herunter, kämmt ihn, er streichelt ihr über die Wange und lächelt.

Bis zum Schichtende wird Kirsten Kausch noch weitere Bewohner des Schmalenbach-Hauses begrüßen, waschen, windeln, kämmen füttern. Sie wird Medikamente verteilen, Trost spenden, über Wangen streicheln, Tabellen ausfüllen, Bestellungen aufgeben, Arzttermine vereinbaren, akute Probleme lösen, Praktikanten einweisen, mit Angehörigen telefonieren. Am Ende steht wieder die Übergabe, diesmal an die Nachmittagsschicht.

Nicht wenige Experten sagen, dass die wachsende Lücke auf dem Arbeitsmarkt zumindest teilweise geschlossen werden könnte, wenn Altenpfleger nicht so früh aus dem Beruf aussteigen würden. Manche reden von durchschnittlich gut acht Jahren, andere sogar nur von weniger als fünf Jahren. Verschärfend wirkt auch, dass viele Altenpfleger Teilzeit arbeiten. «Vollzeit würde ich heute gar nicht mehr schaffen», sagt Kausch.

Die 43-Jährige arbeitet derzeit 30 Stunden pro Woche. Und unter den jetzigen Bedingungen, sagt sie, «hält man das sowieso nicht bis zur Rente durch». Hausleiterin Diana Schmidt stimmt ihr zu. «Die Gefahr eines Burn-Out ist bei Vollzeitstellen größer.»

Kausch wünscht sich auch ein anderes, ein besseres Image für ihren Beruf. In Berichten über Altenpflegeheime gehe es immer um Missstände, schlechte Versorgung, Misshandlungen, sagt auch Hausleiterin Schmidt. Es tue schon weh, wenn sie Angehörige der Hausbewohner sagen höre: «Mir tut es doch auch leid, dich einfach hierzulassen.» Soziale Berufe seien oft kaum anerkannt.

Das bestätigt der Personalleiter des evangelischen Johanneswerks, zu dem das Marie-Schmalenbach-Haus gehört. «Als ich 1987 meine Ausbildung zum Altenpfleger gemacht habe, wurde ich gefragt, warum ich denn "Urin-Kellner" werden möchte», erinnert sich Hans-Werner Hinnenthal. «An diesem Image hat sich nicht viel geändert.»

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