Suchtverhalten

Internetsucht, Sexsucht, Spielsucht - wer unter solch einer Abhängigkeit leidet, hat oft ähnliche Probleme wie ein Alkohol- oder Drogensüchtiger. Wissenschaftler berieten in Berlin über Verhaltenssüchte und ihre Folgen.

Berlin (dpa/tmn) - Wann ist eine Sucht eine Sucht? Bei Drogen oder Alkohol ist diese Frage schnell geklärt: Der Abhängige hat das unbändige Verlangen, den Stoff so schnell wie möglich zu konsumieren. Je länger er süchtig ist, desto mehr braucht er, um dieses Verlangen zu stillen. Bekommt er keinen Nachschub, macht sich das körperlich bemerkbar: Der Betroffene zittert wie Espenlaub.

Bei bestimmten Verhaltensweisen ist es schwieriger, eine Abhängigkeit zu definieren - auch wenn Internet-, Shopping- oder Sexsucht schon Begriffe im alltäglichen Sprachgebrauch sind. «Eine Verhaltenssucht hat nicht so sehr einen körperlichen Effekt», sagt Prof. Andreas Heinz von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Berlin. Zwar sei sie wie eine stoffgebundene Sucht durch starkes Verlangen und den Verlust von Kontrolle gekennzeichnet. «Aber das reicht an sich nicht für eine Diagnose.»

Weltweit sind Wissenschaftler derzeit dabei, die Kriterien für die Diagnose von Verhaltenssüchten zu ordnen und genauer zu definieren. Im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO wird in diesem Zusammenhang gerade die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) überarbeitet, in den USA das Diagnosesystem für psychische Krankheiten DSM-4. In beiden ist an nicht-stoffgebundenen Süchten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zufolge bislang nur das «pathologische Glücksspiel» enthalten - allerdings nicht im Suchtkapitel. Es gilt zurzeit nur als «Störung der Impulskontrolle».

Das dürfte sich bald ändern. Denn die Überschneidung der Diagnosekriterien zwischen pathologischem Spielen und der Abhängigkeit von Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Heroin seien sehr groß, sagt Prof. Karl F. Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. «Sechs von neun Kriterien sind identisch mit den Suchtkriterien», erläutert er. Dazu zählen neben dem durch die Sucht verursachten Druck, der steigenden Dosis und dem Kontrollverlust unter anderem die Gefährdung sozialer Beziehungen und das Spielen als Flucht vor Problemen. Außerdem zeigten neurobiologische Befunde in den vergangenen Jahren, dass das Belohnungssystem im Gehirn von Spielsüchtigen genauso geschädigt sei wie bei Stoffabhängigen.

«Das Thema ist nicht so neu, wie es scheint, schon im 19.Jahrhundert gab es Outings», ergänzt DGPPN-Präsident Prof. Wolfgang Maier. Er verweist auf Fjodor Dostojewskis Roman «Der Spieler», in dem es um Spielsucht geht, die der Autor aus eigener Anschauung kannte. Der Mediziner vom Universitätsklinikum Bonn beruhigt aber: Nur wenige Menschen, die Glücksspiele spielen, werden abhängig. Laut einer Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) waren 2011 etwa 0,5 Prozent der 16- bis 65-jährigen Bevölkerung in Deutschland pathologische Glücksspieler. Das entspricht etwa 264 000 Menschen.

«Betroffene haben oft in großem Umfang nicht nur Probleme mit dem Glücksspiel selbst», fügt der Suchtmediziner Mann hinzu. Sie seien häufig auch von Substanzen wie Nikotin und Alkohol abhängig und litten unter weiteren psychischen Störungen wie Ängsten oder affektiven Störungen. «Insgesamt handelt es sich um ein Klientel mit einer hohen Komorbidität.»

Noch uneins sind sich die Experten darüber, ob exzessive Internetnutzung an sich schon eine Sucht darstellt. In den USA sehen Wissenschaftler Prof. Mann zufolge noch nicht genug Belege dafür. Die Wissenschaftler, die am neuen ICD-11 arbeiten, seien dagegen der Ansicht, es könne von einer Sucht gesprochen werden. Der BZgA-Studie zufolge nutzt etwa ein Prozent der 16- bis 65-jährigen Deutschen das Internet pathologisch, das sind etwa 560 000 Menschen.

Florian Rehbein vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) spricht sich dafür aus, Internetsucht in einzelne Facetten zu zerlegen. Kriterien für die sogenannte Internet Gaming Disorder, wie sie im neuen DSM-5 zu finden sind, sind nach Rehbeins Angaben unter anderem: die gedankliche Vereinnahmung durch den Spieldrang, psychische Entzugserscheinungen wie Unruhe oder Traurigkeit, Spielen, um Stress abzubauen und negative Gefühle auszublenden sowie das Belügen von wichtigen Bezugspersonen oder Job- und Geldverluste.

Studien hätten gezeigt, dass die Leistungsfähigkeit durch eine PC-Spielsucht erheblich beeinträchtigt werde. Abhängige Jugendliche könnten zum Beispiel Aufgaben schlechter bewältigen, seien schlechter in die Klasse integriert, hätten erhöhte Schulangst, schwänzten häufiger und bekämen schlechtere Noten. Wenn sich Betroffene Hilfe suchen, tun sie das Rehbein zufolge vor allem, weil sie einen «Leistungsabfall» bemerken - Abmahnungen durch den Arbeitgeber oder die Kündigung könnten ein sichtbares Zeichen dafür sein.

Hilfe bietet vor allem die Psychotherapie. «International relativ gut evaluiert ist die kognitive Verhaltenstherapie», erläutert Prof. Mann. Dabei lernen die Patienten, wie sie zum Beispiel Stress auf gesunde Weise bewältigen können oder verantwortungsvoll mit Geld umgehen. Als zweite Methode steht die motivierende Gesprächsführung zur Verfügung. Aber auch Medikamente, die das Verlangen nach Alkohol vermindern, sogenannte Opiatantagonisten, kommen infrage, sagt der Mediziner. «Möglicherweise können sie auch den Kick beim Spielen reduzieren.» Das sei allerdings noch nicht abschließend erforscht.

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