Studie: Psychische Störungen bleiben gefährlich oft unbehandelt

Psychische und neurologische Störungen sind vielerorts noch immer ein Tabu-Thema. Eine neue Studie für die EU geht jedoch davon aus, dass rund 38 Prozent aller Europäer jährlich von einer solchen Erkrankung betroffen sind. Forscher fordern Programme schon in der Schulzeit.

Paris (dpa) - Mehr als jeder dritte EU-Bürger leidet mindestens einmal im Jahr an einer psychischen oder neurologischen Störung. Besonders häufig treten Angsterkrankungen, Depressionen und Schlaflosigkeit auf, ergab die bislang größte Studie zum Thema.

«Es gab lange die Annahme, dass psychische und neurologische Störungen nur das Schicksal einzelner Personen sind. Das ist vollkommen abwegig», kommentierte der deutsche Studienleiter Hans-Ulrich Wittchen (TU Dresden) am Montag bei der Vorstellung der Ergebnisse in Paris. «Warum sollte das Gehirn im Gegensatz zum Rest des Körpers gesünder sein, obwohl es um ein Vielfaches komplexer ist als andere Organe?» Niemand wundere sich, wenn er einmal im Jahr zum Arzt gehen müsse, weil er eine Erkältung oder etwas am Magen habe.

Die Gesamtzahl der pro Jahr betroffenen Menschen in der EU und den Ländern Schweiz, Norwegen und Island schätzen die Experten nach einer umfassenden Metaanalyse vorhandener Daten auf 164,8 Millionen Menschen. Allein 61,5 Millionen Menschen leiden demnach an Angststörungen, rund 30,3 Millionen unter Depressionen und 6,3 Millionen an Demenzerkrankungen. Nicht ganz so häufig sind der Analyse zufolge Krankheiten wie Alkoholsucht (14,6 Mio.) oder Essstörungen (1,5 Mio.). Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose wurden im Gegensatz zur Demenz in dieser Statistik nicht berücksichtigt. Sie würden die Prozentzahl noch einmal erhöhen, schreiben die Autoren.

«Das Besondere an psychischen oder neurologischen Störungen ist, dass sie im Gegensatz zu Stoffwechselerkrankungen oder Krebserkrankungen nur äußerst selten adäquat behandelt werden», sagte der an der Technischen Universität Dresden forschende Psychologe Wittchen. Nach der Auswertung der Daten würden in Europa nur zehn Prozent aller psychischen Störungen «minimal adäquat» behandelt. Selbst die besten Gesundheitssysteme, zu denen auch das deutsche gehöre, schafften es bestenfalls, jeden zweiten Patienten einigermaßen gut zu behandeln.

Ein Kapazitätsproblem ist dies nach Einschätzung der Forscher nur bedingt. «Würde man die Zuweisung von vorhandenen Ressourcen und die Möglichkeiten optimieren, dann würde man durchaus in der Lage sein, ohne Mehrkosten eine ähnlich befriedigende Situation zu erreichen wie im Bereich Diabetes oder Herzerkrankungen», kommentierte Wittchen.

Als «politischen Fehler» sieht der Dresdner den Forschungsschwerpunkt der vergangenen Jahre. Dieser sei stark auf besonders dramatische Störungsbilder wie Depressionen undnachfolgende Suizide ausgerichtet gewesen, obwohl Depressionen oft infolge von anderen Erkrankungen auftreten würden.

«Viele Kinder und Jugendliche entwickeln zwischen dem 5. und dem 18. Lebensjahr Angsterkrankungen wie Panikstörungen oder Phobien. Das spielt sich aber meist im Stillen ab, wie ein Krebs, den keiner wahrnimmt», erklärte Wittchen. «Wenn diese Menschen dann aber 25 Jahre alt sind und berufliche und private Entscheidungen treffen müssen, merken sie plötzlich, dass die wegen ihrer Angsterkrankung dazu nicht in der Lage sind.» Dann komme es häufig zum ersten Ausbruch einer Depression und zu einem Suizidversuch.

«Hätte man diese Leute frühzeitiger behandelt, würde man hinterher keine Patienten haben, die eigentlich schon seit 15 Jahren krank sind», sagte Wittchen. Mit frühzeitigen Untersuchungen könnten viele schlimme Konsequenzen verhindert werden.

Männer und Frauen leiden nach Angaben der Forscher etwa gleich häufig unter psychischen Erkrankungen - einen großen Unterschied gibt es aber zwischen der Art der Störungen. Männer haben in der Kindheit etwa häufiger ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen) und später Suchterkrankungen, während Frauen häufiger an Depressionen, Angsterkrankungen und Essstörungen leiden.

Als eine Ursache der Geschlechtsunterschiede gelten nach Angaben von Wittchen gesellschaftliche Veränderungen. «Die soziale Stress- und Rollenbelastung von Frauen hat in den vergangenen 30 Jahren deutlich zugenommen. Das heißt, eine Frau, die die Rolle einer berufstätigen Hausfrau und Mutter hat, hat ein höheres Risiko Angst- und Depressionserkrankungen zu bekommen als Männer.» Bekannt sei auch, dass eine Heirat bei Männern die Krankheitshäufigkeit senke, während es bei Frauen genau andersherum sein könne.

Die in der Fachzeitschrift «European Neuropsychopharmacology» (21, 655-679) veröffentlichten Studienergebnisse basieren auf einer über drei Jahre durchgeführten Untersuchung und beziehen sich auf eine Gesamteinwohnerzahl von 514 Millionen Menschen. Es wurden nach Angaben der Autoren mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder berücksichtigt. Damit sei die Untersuchung die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasse.

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