Schwefelwasser trinken und schlemmen in Goethes Liebesnest Marienbad

Marienbad (dpa/tmn) - Das Beruhigende: Schon Goethe hat es getrunken. Das Beunruhigende: Es schmeckt wie flüssiger Rost. Aber das Marienbader Quellwasser soll heilen und hat seine Stadt weltberühmt gemacht. In einem weißen klassizistischen Tempel steht das Allerheiligste der böhmischen Kurstadt: der Kreuzbrunnen. Aus rostigen Hähnen tropft das Wasser unablässig in die Schnabeltassen durstiger Kurgäste.

Zwei Liter pro Tag sollten es schon sein, möchte man eine der unterschiedlichsten Wirkungen erfahren, die dem mineralhaltigen, hellgelben Wasser zugeschrieben werden. An der Stirnwand des Gebäudes stehen Regale mit Hunderten von Schnabeltassen ? man kann sein Trinkgefäß hier parken bis zum nächsten Schluck.

Die Trinkkuren gehen unter den strengen Augen des Schöpfers von Marienbad vonstatten: Doktor Johannes Nehr wacht in der Halle des Kreuzbrunnens als bronzene Büste über sein Werk. Anfang des 19. Jahrhunderts ließ der Arzt des nahe gelegenen Klosters Tepl diesen böhmischen Sumpf trockenlegen, um ein Kurbad zu gründen ? der vielen Heilquellen wegen.

Heute ist Mariánské Lázn? berühmt für sein Wasser, seine pompöse Bäderarchitektur, seine berühmten Gäste. Vom Kreuzbrunnen geht der Blick nach Süden über den Kurpark, einen wundervollen englischen Landschaftsgarten. Hier kann man vierblättrige Kleeblätter suchen auf dem Weg zu den verschiedenen Quellen. Die Straßen werden zu beiden Seiten gesäumt von Zuckerbäcker-Hotels in gelb und orange. Bei der Haarfarbe der Gäste dominiert Grau, von den Enkeln abgesehen, die manchmal mitgenommen werden von ihren deutschen oder russischen Großeltern. Die Generationen zwischen Abitur und Rente arbeiten nur in Marienbad.

Im 1896 erbauten Hotel Neubad steht Pavel an der Bar, wenn man morgens aufsteht und wenn man abends ins Bett geht. Das mache ihm nichts aus, sagt er. Im Gegensatz zu Karlsbad, dem älteren Kurort 50 Kilometer nordöstlich von hier, gibt es in Marienbad neben dem Kurbetrieb keine großen Arbeitgeber.

Das war auch 1820 so, als Johann Wolfgang von Goethe, der hartnäckige Kurbadbesucher, mit der Kutsche zum ersten Mal nach Marienbad kam. Er wird nicht wesentlich langsamer gewesen sein alsder Zug, der heute in Schrittgeschwindigkeit durch den Wald ächzt und an jedem Bretterverhau hält. Goethe wohnte im Klebelsbergschen Palais hoch am Hang über dem Kreuzbrunnen. Heute verfällt das Gebäude ? ein Schild kündet von längst vergangenem Ruhm: Der englische König Edward VII. hat hier auch genächtigt.

Im Jahr 1821 machte Goethe die Bekanntschaft einer Tochter des Hauses, Ulrike von Levetzow. Er flanierte mit ihr durch den Park, trank den Sprudel, besuchte Bälle mit ihr. Und verliebte sich in die 17-Jährige. Der Dichterfürst war zu diesem Zeitpunkt 72 Jahre alt, seine erste Ehefrau Christiane seit fünf Jahren tot. «Er will doch wohl nicht», dachte sich ganz Marienbad, aber er wollte durchaus.

Im Sommer 1823 ließ er den Großherzog von Weimar, Carl August, um die Hand Ulrikes bitten. Ihre Familie lehnte ab. Die Geschichte war in Weimar schon zum Skandal geworden, bevor Goethe dort wieder ankam. Noch in der Kutsche schrieb er den ersten Entwurf der Marienbader Elegie nieder.

Der Geheime Rat verliebte sich nach allem, was wir wissen, bis an sein Lebensende nicht mehr - und mied fortan Marienbad. Ulrike wurde Stiftsfrau und schrieb später etwas verrätselt über ihre Marienbader Beziehung: «Keine Liebe war es nicht.»

Marienbad hat seinem größten Promi ein Museum im ehemaligen Hotel zur goldenen Traube am jetzigen Goetheplatz eingerichtet. Man weiß, was man dem Großdichter zu verdanken hat. Goethe hatte die feine Gesellschaft hierher geführt. Ein Jahrhundert lang galt ein Kururlaub in Marienbad als Statussymbol für Europas Geld- und Geistesadel.

Die wichtigsten Kuranwendungen von damals werden heute noch praktiziert. Um 7.00 Uhr früh ist es in der sogenannten Balneo-Abteilung des Hotels Zentralbad voll wie in einer großstädtischen Hausarztpraxis am Montagmorgen. Gäste in Bademänteln und Latschen schleichen durch die Gänge, an den Wänden glänzen seit 1892 dunkelgrüne Fliesen. Marmorstuck in den Ecken, Putten über den zahlreichen Waschbecken.

In einem Raum hängen blaue Plastiksäcke an einer Wäschespinne. Sogleich wird uns einer in die Hand gedrückt, die Schwester führt in einen der ungezählten Behandlungsräume. Was mit dem Sack tun? «Ausziehen, reinlegen!» Nicht die Kleidung. Sich selbst.

Die Schwester zurrt den Sack mit einem Gummiband unter den Achseln fest, greift nach einem tankpistolenartigen Gerät, das an der Wand hängt. Das Gerät wird in den Sack gesteckt und dieser befüllt - mit sogenanntem Mariengas. Der Sack wird zum Ballon, man glaubt abzuheben, jetzt hat er sicher einen guten Meter im Durchmesser. Eine Wolldecke wird uns übergeworfen, dann liegen wir im Mariengas-Ballon. «Zwanzig Minuten, ja?»

Das Mariengas entweicht der Marienbader Erde und soll ebenfalls heilen. Es besteht zwar fast zu 100 Prozent aus gewöhnlichem Kohlendioxid, aber an der Wirkung zweifelt hier niemand: Die Durchblutung der unteren Extremitäten soll angeregt, die Sexualfunktionen verbessert, Rheuma-Beschwerden gelindert werden.

Als der Sack nach 20 Minuten geöffnet wird, entweicht eine Mariengas-Wolke, die in der Nase die Kraft mehrerer geöffneter Sprudelflaschen entwickelt. Nach einem Niesanfall geht es weiter in die klassischste Heilanwendung: ins Mineralbad.

Eine sehr große, sehr rostig aussehende Badewanne ist mit angewärmtem Quellwasser gefüllt, dem Mariengas zugesetzt wurde. Man fühlt sich darin wie eine Aspirintablette. Überall blubbern Blasen, bei jeder Bewegung schäumt es. Sehr entspannend, auch wenn die Rostflecken an den Unterarmen nach ein paar Minuten unangenehm auffallen.

Derartig durchblutet, ist der Besucher gerüstet für eine der Hauptbeschäftigungen, denen die Gäste Böhmens seit Jahrhunderten nachgehen ? essen. In Marienbad findet man weder Kneipen noch Discos, dafür Cafés und Restaurants in einer unglaublichen Dichte. Zuerst Prager Schinken, dann böhmisches Rauchfleisch, hinterher Schweinebraten mit Knödeln, dazu Pivo, also Bier ? danach kann man sich zur Verstoffwechselung schon wieder ins Mineralbad legen. Doch zuvor sollte man noch einen Abstecher ins Café Dominik machen.

Es liegt im Hinterhof eines herrschaftlichen Hauses an der Hauptstraße und versprüht den Charme einer Eisdiele der 1990er Jahre. Aber: Hier gibt es die besten Palatschinken Marienbads. Zarte Pfannkuchen mit köstlichem Vanille-Eis, Schokosoße und reichlich Sahne gehören bald schon so sehr zum täglichen Kurspaziergang wie die Schnabeltasse Kreuzbrunnenwasser - und die überall feilgebotenen, tellergroßen Marienbader Oblaten mit Schokocreme für den ganz kleinen Hunger zwischen den Zwischenmahlzeiten.

Falls man sich im 19. Jahrhundert so Wellness vorgestellt hat: Gesund war das sicher nicht. Immerhin war das Trinkregiment früher strenger. Gustav Mahler beschwerte sich darüber, schon um 5.00 Uhr früh zu irgendeiner Quelle aufbrechen zu müssen, um einen Viertelliter der gelblichen Flüssigkeit zu trinken. Der englische König Edward VII. wiederum tat das mit großer Freude, ebenso Richard Wagner, Jan Neruda, Frederic Chopin, Friedrich Nietzsche, Mark Twain, Stefan Zweig und ungezählte mehr, unter ihnen auch Franz Kafka, der allerdings selbst in Marienbad nicht glücklich wurde.

Zehntausende Kurgäste besuchten Marienbad jedes Jahr - bis Nazi-Deutschland 1938 das Sudetenland besetzte. Nach dem Krieg musste die deutschstämmige Bevölkerung das unzerstörte Marienbad verlassen, sie wurde im Zuge der Bene?-Beschlüsse enteignet und vertrieben.

«Und dann kamen die Kommunisten», sagt ein damals Vertriebener, der namenlos bleiben möchte und ungezählte Male in Marienbad war. Er sitzt auf der Terrasse vor dem Hotel Zentralbad und raucht französische Zigaretten. Während des Kriegs wurde er in Prag geboren, dann mit seiner Familie vertrieben. Heute lebt er in Nürnberg.

Wie die Kommunisten die Stadt heruntergewirtschaftet haben, habe er selbst erlebt. Damals sei zwar alles billiger gewesen, und es sei noch viel Deutsch gesprochen worden. Aber die alten Prunkhotels aus dem 19. Jahrhundert seien von Jahr zu Jahr zerfallen. Erst mit der Wende begannen die Renovierungen.

Marienbad hat sich seither nicht erneuert. Marienbad hat sich selbst wieder aufgegossen. Wir sitzen am Goetheplatz, vor uns die achteckige katholische Kirche von 1848, dahinter die verspielten Kolonnaden des Kreuzbrunnens. Am rechten Bildrand das heruntergekommene Palais Klebelsberg, daneben eine rosa verputzte Stuckburg, aus der «Für Elise» herüberweht. Die Mischung aus Kitsch, Grandezza, Verfall, Historie und Kur-Absonderlichkeiten ist auf verwirrende Weise angenehm - und ein bisschen langweilig.

Info-Kasten: Marienbad

Anreise: Marienbad liegt anderthalb Autostunden entfernt von Bayreuth. Die Anreise per Auto ist wegen der schlechten Anbindung Marienbads zu empfehlen. Von den meisten deutschen Flughäfen kann man nach Prag fliegen, von dort fahren Busse in drei Stunden nach Karlsbad. Von Karlsbad aus geht etwa alle zwei Stunden ein Zug durch den Böhmischen Wald nach Karlsbad. Die Route ist sehenswert, aber langwierig, die Strecke nicht elektrifiziert.

Unterkunft: Schlafen kann man am besten rund um den Goetheplatz, von dort hat man den schönsten Ausblick über die Stadt. Das älteste Hotel an diesem Platz ist das Zentralbad, das Centrální Lázn?.

Informationen: Tourismusbüro Marienbad, Hlavní 47/28, 353 01 Mariánské Lázn? (Tel.: +420 354/62 24 74, E-Mail: infocentrum@marianskelazne.cz)

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