Leben statt Streben: Zu viel Perfektionismus ist ungesund

Krankhafte Perfektionisten streben überall nach Vollkommenheit, bewirken aber genau das Gegenteil: Sie sind ständig überlastet und führen ein einseitiges Leben. Statt alle Schwächen ausbügeln zu wollen, sollten sie sich ihrer Stärken und Fähigkeiten bewusstwerden.

Ob Spitzensportler, erfolgreiche Chirurgen oder virtuose Musiker: Einige von ihnen haben es wohl nur deshalb so weit gebracht, weil sie Perfektionisten sind. Das Streben nach Höchstleistungen ist für sie eine Lebenseinstellung, der sie mit Leidenschaft nachgehen. Ständig besser werden zu wollen, ist völlig in Ordnung. Doch nur ein schmaler Grat trennt gesunden von krankhaftem Perfektionismus - er hemmt, anstatt zu fördern.

«Perfektionismus wird für Menschen immer dann zum Problem, wenn das Erfüllen ihrer hohen Ansprüche auf Dauer zu anstrengend wird und sie daran leiden», sagt die Diplom-Psychologin Christine Altstötter-Gleich von der Universität Landau. Solche sogenannten dysfunktionalen Perfektionisten sind selten mit ihrer Leistung zufrieden. Sie achten eher auf ihre Schwächen als auf ihre Stärken und haben Angst, Fehler zu machen. «Wenn sie ihren selbstgesteckten Standards mal nicht gerecht werden, können sie damit nicht umgehen.»

Schon durchschnittliche Ergebnisse sind für sie eine Katastrophe. Weil sie ihre nahezu unmöglichen Ziele seltener erreichen, haben sie häufiger als andere das Gefühl, zu scheitern. «Ihr Selbstwertgefühl ist stark an Erfolge und Leistungen gebunden», erklärt der Psychotherapeut Nils Spitzer vom Deutschen Institut für Rational-Emotive Verhaltenstherapie in Würzburg. «Empfinden diese Menschen ihre Leistung in einem Bereich als schlecht, werten sie ihre gesamte Persönlichkeit enorm ab. Sie fühlen sich dann als totaler Versager in allen Lebenslagen.»

Außerdem denken sie, dass bereits kleine Fehler dramatische Folgen haben. «Sie fürchten zum Beispiel, von ihrem Umfeld verachtet zu werden, wenn sie dessen Anforderungen nicht erfüllen», sagt Spitzer. Dass Fehlerlosigkeit nicht vor Kritik schütze, sei ihnen nicht bewusst.

Wissenschaftler vermuten die Ursachen solcher Einstellungen im Elternhaus. «Wahrscheinlich haben die Eltern ihre anspruchsvolle Haltung mit einer emotionalen Kälte verbunden. Das heißt: Das Kind bekam nur dann Anerkennung, wenn es funktionierte, und seine Fehler wurden schneller kommentiert als seine Erfolge», erläutert Altstötter-Gleich. Durch ähnliche Erfahrungen mit dem Thema Leistung im Lauf des Lebens würden sich solche negative Tendenzen verfestigen.

Das ungesunde Ringen um Makellosigkeit führt zu einer ständigen Überlastung. Stress, sozialer Rückzug, Ess- und Schlafstörungen sowie Burnout und Depressionen können die Folgen sein. Wenn Perfektionisten ihre Ansprüche auch an andere richten, fühlen sich Freunde, Partnerund Verwandte oft nicht mehr ernst genommen. «Der Perfektionist wird dann zu einem unsympathischen Typen, der anderen immer den Genuss verdirbt, weil er überall Fehler findet», sagt Spitzer.

Der Weg aus der Perfektionismusfalle liegt nicht darin, einfach alle hohen Ansprüche abzusenken. «Vielmehr sollten sich dysfunktionale Perfektionisten genau überlegen, was sie eigentlich wollen, wo ihre Fähigkeiten liegen und wie viel Energie sie in einzelne Lebensbereiche investieren möchten», rät Altstötter-Gleich. «Je nach persönlicher Schwerpunktsetzung kann es also durchaus Gebiete geben, in denen sie ihre Ansprüche erhöhen können.» Gleichzeitig müssten Betroffene aber ihre eigenen Grenzen in anderen Bereichen anerkennen, in denen sie nicht so gut sind.

Gerade das fällt krankhaften Perfektionisten äußerst schwer. Sie wollen überall mit ihren Fähigkeiten glänzen, doch letztlich führen sie ein einseitiges Leben. Das müsse ihnen bewusstwerden, sagt Doris Märtin, Buchautorin und Coach aus Augsburg. Sie rät, lieber mehrere Sachen gut zu erledigen als nur eine perfekt. Als Grund nennt sie das sogenannte Paretoprinzip. «Für 80 Prozent einer Leistung braucht man lediglich 20 Prozent des gesamten Aufwands. Aber in die restlichen 20 Prozent muss man ganze 80 Prozent seiner Kraft stecken, damit das Ergebnis vollkommen wird», erläutert Märtin. Die eingesparte Zeit und Energie könne man für Lebensbereiche nutzen, die bisher zu kurz gekommen seien. «Das eröffnet neue Freiräume und kann mehr Lebensqualität bedeuten.»

Um ihrem ausufernden Genauigkeitssinn im Alltag entgegenzuwirken, sollten sich Perfektionisten immer wieder selbst überprüfen. «Sie können für sich klären: Ist mein Engagement in dieser Sache überhaupt sinnvoll oder nur stilvoll? Hilft es mir, besser zu werden? Oder dient es lediglich meinem Drang, mitreden zu können und gut dastehen zu müssen?», rät Märtin.

Allerdings sind sich krankhafte Perfektionisten häufig unsicher und verlieren sich in Details. Die Folge: Sie schieben Entscheidungen zu lange auf und verpassen Chancen. Kleine Experimente können helfen: «Perfektionisten sollten versuchen, sich innerhalb eines vorher festgelegten, kurzen Zeitraums in einer Sache zu entscheiden, die keine allzu große Bedeutung für sie hat», erläutert Spitzer. «Dadurch stärken sie ihre Intuition und lernen, mit einer begrenzten Zahl von Argumenten Antworten zu finden.» Entscheidend sei die Erfahrung, dass die Folgen eigenen Handelns auch positiv überraschen können.

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