ADHS-Mittel Ritalin - Kardiologen für mehr Blutdruck-Kontrollen

Berlin (dpa) - Die Zeit der heftigen Grabenkämpfe zwischen Befürwortern und Kritikern von Ritalin und Co. scheint vorbei - bei sorgfältiger Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) ist die ergänzende Gabe der Wirkstoffe Methylphenidat oder Atomoxetin kein rotes Tuch mehr, wenn andere Therapien alleine nicht ausreichen. Betroffene Familien oder Erwachsene haben oft einen hohen Leidensdruck, bis sie zum Medikament greifen. Doch angesichts stetig wachsender Verschreibungszahlen wird die umfassende, korrekte Anamnese immer wichtiger - nicht zuletzt, so betonen Kardiologen, weil unter Umständen Arterienverkalkung als Langzeitfolge droht.

Die Frage, ob die langfristige Einnahme von Ritalin das Risiko für Herzleiden erhöht, wird seit Jahren diskutiert. Eine große US-Kohortenstudie an 2- bis 24-Jährigen («New England Journal of Medicine»; 2011; Bd. 365, S. 1896-1904), erbrachte jüngst keine Hinweise für eine erhöhte Zahl von «schweren Zwischenfällen» wie Herzinfarkten oder gar Todesfällen über einen Zeitraum von zwei Jahren. Eine Studie im US-Ärzteblatt «Journal of the American Medical Association» («JAMA») untersuchte Erwachsene - mit ähnlichem Ergebnis. Doch aus Sicht von Kardiologen drohen Probleme möglicherweise erst langfristig.

«Es gibt Hinweise, dass beispielsweise der Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat den Blutdruck bei 80 Prozent der Patienten erhöht. Meist nur geringfügig, aber bei Einzelnen steigt er auch stark und dauerhaft an. Das erhöht das Risiko für eine spätere Arteriosklerose», sagt der Kinderkardiologe Martin Hulpke-Wette (Göttingen). Diese Gefahr, so der Fachmann der Deutschen Gesellschaft für Kinderkardiologie, werde bislang deutlich unterschätzt. Denn erst Mitte 2010 seien deutsche Blutdruck-Normwerte für normalgewichtige Kinder bestimmt worden. «Die werden aber noch nicht flächendeckend berücksichtigt.» Eine gründliche Anamnese vor der Behandlung und ein Check im Drei-Monats-Abstand sei deshalb unerlässlich. «Eltern sollten dies unbedingt ansprechen», empfiehlt er.

Professor Wolfgang Rascher (Kinder- und Jugendklinik der Uniklinik Erlangen und Mitglied der Arzneimittelkommission) ergänzt: «Ich sehe immer noch sehr oft, dass die Diagnose-Kriterien nicht eingehalten wurden.» Es sei deshalb sehr wichtig, dass nur Experten mit Zusatzausbildung diese Diagnose stellen und nicht etwa der Hausarzt. Der Anstieg der Ritalin-Verschreibungen habe sich zuletzt zwar abgeschwächt, aber sei dennoch enorm.Kardiologe Hulpke-Wette schätzt, dass in Deutschland bereits rund 700 000 Kinder Bluthochdruck haben, zumeist unentdeckt. «Für Arteriosklerose, die sich ja über viele Jahre entwickelt, zählt jeder Risikofaktor wie Übergewicht, erhöhte Lipidwerte oder Rauchen. Aber ab drei Faktoren wirken sie nicht mehr additiv, sondern exponentiell», erläuterte er.

Im Dezember hatte der Hersteller des ADHS-Medikaments Strattera (Wirkstoff Atomoxetin) gemeinsam mit dem Bundesamt BfArM in einem Roten-Hand-Brief auf einen deutlich stärkeren Blutdruckanstieg bei einem Teil der Patienten hingewiesen. Ärzte sollten Menschen mit schweren Herzproblemen das Präparat deshalb nur eingeschränkt verschreiben.

Angesichts der Tatsache, dass ADHS-Medikamente seit geraumer Zeit auch erwachsenen Patienten verschrieben werden dürfen, gewinnt der Aufruf der Kardiologen an Gewicht. Denn viele erwachsene ADHS-Betroffene «therapierten» ihren gestörten Dopamin-Haushalt bereits in Eigenregie durch Zigaretten und Alkohol - also weiteren Arteriosklerose-Risikofaktoren, berichten Ärzte. Hinzu kommt die unbekannte Menge an Erwachsenen, die Ritalin in Prüfungszeiten oder beruflichen Stressphasen als «Wachmacher» schlucken - illegal übers Internet besorgt.

Für viele betroffene Familien dürften die Bedenken der Fachärzte an ihrem Umgang mit der individuellen Situation dennoch wenig ändern. «Anders als in den Medien häufig dargestellt, tun sich die meisten Eltern, aber auch viele betroffene Erwachsene, mit der Entscheidung zur Medikation der ADHS sehr schwer», berichtet der Sprecher des Selbsthilfeverbands ADHS-Deutschland, Johannes Streif. Das gesamte Für und Wider sei meistens gründlich durchdacht. «Viele Betroffene und ihre Familien haben sehr schwierige Zeiten hinter sich, angesichts derer manche Nebenwirkung, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit auftritt, weder Eltern noch Betroffenen wirklich bedeutsam erscheint.»

Kardiologe Hulpke-Wette versteht dies und unterstützt die Eltern: «Generell ist aus meiner Sicht gegen die Medikamententherapie nichts einzuwenden - wenn man eben auf die Nebenwirkungen im Herz-Kreislaufsektor achtet. Solange Bluthochdruck entdeckt und beobachtet wird, ist das ja nichts Schlimmes.» Oft reiche es schon aus, die Medikamentendosis anzupassen oder - falls dies in schweren ADHS-Fällen nicht möglich sei - Hibiskusblütentee zu trinken.

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