Skalpell und Psychotherapie: Der Kampf gegen Fettsucht

Wenn Diäten nicht mehr helfen, legen sie sich immer öfter unters Messer: Adipositas-Patienten, die ihr Übergewicht in die Knie zwingt. Denn Fettleibige leiden oft unter schweren Folgekrankheiten - und unter der Verachtung ihrer Mitmenschen. Nürnberg (dpa) - Paula K. leidet. Bei jedem Schritt schleppt sie mehr als 120 Kilogramm durch die Gegend - ihr eigenes Körpergewicht. Seit Jahren kämpft die 38-Jährige gegen ihre Pfunde an, hat zahlreiche Diäten probiert. Letztlich erfolglos. Nach einer Schwangerschaft blieben weitere 20 Kilo auf den Hüften hängen. Inzwischen ist der Erzieherin klar: «Ich muss mir helfen lassen, weil mein Körper mich nicht mehr tragen will.»

So wie Paula K. suchen viele adipöse Menschen nach Hilfe. Weil übliche Konzepte - weniger essen, mehr bewegen - bei dieser Gruppe kaum langfristige Erfolge zeigen, legen sich in Deutschland jedes Jahr bis zu 7000 von ihnen unters Messer. Magenband, Schlauchmagen, Bypass oder ein «Magenschrittmacher» sollen ebenso wie ein Magenballon dazu führen, dass die Betroffenen weniger Kalorien zu sich nehmen. Die entsprechenden Kliniken haben monatelange Wartezeiten.

Auch Paula K. bereitet sich derzeit auf einen Eingriff vor. «Das ist gut überlegt. Ich habe viel gelesen, viel recherchiert. Aber natürlich habe ich Angst», berichtet die Nürnbergerin. Doch ihre Leidensgrenze ist überschritten. «Bevor ich mit 50 mit dem Gehwagen herumfahre oder nicht mehr aus dem Bett komme, muss was passieren. Ich will wieder ein ganz normales Leben führen!»

Allzu zahlreich sind die verzweifelten Momente, die schwer Übergewichtige immer wieder erleben: Wenn der Hintern bei einem Date im Restaurantstuhl stecken bleibt. Wenn sich die Beine beim Fahrradfahren nicht mehr weit genug anwinkeln lassen. Wenn der Körper im Kino sogar den Doppelsitz ausfüllt. Für Paula K. die schlimmste Vorstellung: «Wenn die Stewardessen im Flugzeug einen Verlängerungsgurt an mir anbringen würden.»

«Ich weiß, dass ich das Problem im Kopf habe. Diese Gelüste, diese Sucht ist so stark, dass mein Verstand aussetzt», berichtet die lebhafte Frau über ihre regelmäßigen Fressattacken, bei denen sie über Süßigkeiten jeder Art herfällt. «Jeder isst aus einem anderen Grund. Ich muss herausfinden, warum das bei mir so ist.» Deshalb will sie sich nicht nur operieren lassen, sondern auch eine Psychotherapie machen.

Ihr Chirurg wird Thomas Horbach sein. Der Chefarzt im Stadtkrankenhaus Schwabach ist auch über Franken hinaus ein anerkannter Fachmann für Adipositas. «Das ist eigentlich eine Epidemie, die explodiert ist in den letzten Jahren», sagt Horbach, der allein im vergangenen Jahr rund 200 Betroffene operiert hat. Ererwartet «eine unendliche Masse an Patienten, die da auf uns zurollt».

Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bezeichnet die Fettleibigkeit hierzulande bereits als «Volkskrankheit». Einer aktuellen Studie der OECD zufolge sind in Deutschland 45 Prozent aller Frauen und 60 Prozent aller Männer übergewichtig. Jeder Sechste ist fettleibig, mit einem Body Mass Index (BMI) über 30. «Das ist ein Frauen- und Unterschichtenproblem», erläutert Horbach.

In seinen Augen ist besonders die Entwicklung beim Nachwuchs dramatisch: «Die Kinder sind praktisch schon vom Start an dick.» Untersuchungen zeigen, dass bereits bei der Einschulung 12 Prozent aller Kinder Übergewicht haben; am Ende der Grundschulzeit sind es gar 18 Prozent. Und wer als Jugendlicher dick ist, ist das in vier von fünf Fällen auch als Erwachsener.

Die Folgen von starkem Übergewicht sind gravierend: Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Erkrankungen, Krebs, orthopädische Probleme, chronisches Kopfweh, Depressionen sowie ungewollte Kinderlosigkeit zählen die Fachleute auf.

Diese Folgeerkrankungen treffen nicht nur den einzelnen, sondern auch die deutsche Solidargemeinschaft, wie der Gesundheitsökonom Hans-Helmut König von der Uniklinik Hamburg ausgerechnet hat: 3,1 Millionen Tage im Krankenhaus, 1,8 Millionen Tage in Reha-Kliniken und 5,9 Millionen Krankheitstage in den Betrieben gingen 2002 allein in Deutschland auf das Konto von Übergewicht - und fast 37 000 Tote.

«Wir sind auf das Ergebnis gekommen, dass knapp fünf Milliarden Euro an direkten Versorgungskosten für die Erkrankungen, die Folge von Übergewicht und Adipositas sind, ausgegeben werden», erläutert König. «Das sind ungefähr 2,1 Prozent der gesamten Gesundheitskosten.» Die Daten sind knapp zehn Jahre alt, inzwischen dürfte der Betrag noch höher liegen. Auf die Folgen von Rauchen sind übrigens rund 3,5 Prozent der Gesundheitsausgaben zurückzuführen.

«Die meisten Studien gehen davon aus, dass bei Adipositas mit einem BMI über 30 die Versorgungskosten gegenüber Normalgewichtigen um etwa 30 Prozent erhöht sind», schildert König. Zu den fünf Milliarden Euro kämen zudem weitere fünf Milliarden an indirekten Kosten dazu - also dafür, dass die Betroffenen ihren Haushalt nicht mehr versorgen können, arbeitsunfähig werden oder früher sterben.

Warum aber essen manche Menschen regelmäßig zu viel, obwohl sie im schlimmsten Fall schon so dick sind, dass sie ihren Bauch zum Stützen in einer Art Rucksack verstauen müssen oder sich ohne Hilfe nicht mehr bewegen können? Diese Frage kann selbst Anette Kersting nicht beantworten, obwohl sie als Direktorin der psychosomatischen Klinik der Uniklinik Leipzig Spezialistin für Essstörungen ist: «Niemand kann das erklären.»

«Es gibt Elemente, die können uns an eine Sucht erinnern, aber eine reine Sucht ist es nicht», erklärt Kersting. Schließlich gebe es auch Menschen, die wegen einer Stoffwechselstörung oder aufgrund von Medikamenten stark übergewichtig seien. Oftmals ließe sich aber beobachten, dass Betroffene mit Hilfe von Essen das Belohnungssystem im Gehirn aktivierten: «Essen bietet die Möglichkeit, unangenehme Gefühle zu überdecken», schildert Kersting. «Essen als Belohnung ist eine andere Variante.»

Den Betroffenen seien die Zusammenhänge meist nicht bewusst, weiß Kersting. «Die bekommen dann einen Rüffel vom Chef, kriegen Hunger und beginnen zu essen.» In der Therapie - in Leipzig wird derzeit eine Internetvariante getestet - werde deshalb versucht herauszufinden, was die Attacken auslöse.

Viele Patienten hätten Schwierigkeiten, sich abzugrenzen, und besäßen ein eher geringes Selbstwertgefühl, schildert Kersting. Oftmals kämen problematische Familienbeziehungen oder Schuldgefühle hinzu. Stefanie Gerlach von der Deutschen Adipositas Gesellschaft in München weiß aus ihrer Zeit als Leiterin eines Adipositaszentrums, dass häufig belastende Lebenssituationen wie der Eintritt ins Berufsleben, Jobwechsel, Arbeitslosigkeit, Trennungen oder Schwangerschaften den Beginn der Gewichtskarriere markieren.

Gerlach rät Betroffenen, ein qualitätsgesichertes Adipositas-Therapieprogramm zu machen. «Am besten in der Gruppe. Die sozialen Bindungen, die dort entstehen, helfen langfristig bei der Stange zu bleiben.» Ziel sei es, die Selbstwahrnehmung zu schärfen und die Auslöser für die Essanfälle zu identifizieren. «Letztlich geht es darum, eine Art Frühwarnsystem im Kopf zu installieren und sich schon vor einer Auslösersituation eine Strategie zum Umgang damit zurechtzulegen.»

Der letzte Ausweg ist der Gang zum Chirurgen. Die einzigen reversiblen Eingriffe sind das Magenband und der Magenballon; dabei lässt eine bis zu 700 Milliliter schwere Blase im Magen weniger Platz für das Essen. Eine andere Möglichkeit ist der Schlauchmagen, bei dem etwa zwei Liter des Organs weggeschnitten werden. Beim Bypass wird der Magen durchtrennt und direkt an den Dünndarm angekoppelt. Bei der biliopankreatischen Diversion wird zusätzlich zur Magenverkleinerung noch der Dünndarm drastisch verkürzt, so dass der Körper nur wenig Zeit hat, die ankommenden Nährstoffe aufzunehmen.

Diese Eingriffe sind gravierend: Die Patienten können danach ihr Leben lang nur noch extrem kleine Portionen essen und müssen künstliche Vitamine und Spurenelemente zu sich nehmen. Oft vertragen sie viele Lebensmittel gar nicht mehr. In Schwabach wird deshalb seit kurzem ein neuer «Magenschrittmacher» implantiert: Durch elektrische Impulse vermittelt das auf die Magenwand gesetzte Gerät dem Patienten ein Völlegefühl, sobald dieser eine bestimmte Menge gegessen hat.

Ähnliche Methoden gibt es zwar bereits seit längerem. Bei dem neuen Magenschrittmacher können die Ärzte und Ernährungsberater nun aber exakt kontrollieren, wann, was und wie viel der Patient gegessen oder getrunken hat und ob er sein Sportprogramm absolviert - per W-Lan. Katrin Falb ist die erste, die das System nach den klinischen Tests eingesetzt bekommen hat. Zwei Monate nach dem Eingriff berichtet die 31-Jährige glücklich: «Der Dauerhunger hat sich geändert. Jetzt gibt es wieder ein Satt.»

Auch Irmgard H. hat ihre OP noch keine Sekunde bereut, obwohl sie dadurch einigen heftigen Einschränkungen unterliegt - isst sie zum Beispiel Zucker, wird sie ohnmächtig. Dennoch berichtet die 60-Jährige mit strahlenden Augen von ihrem «neuen Leben», in dem sie ständig unterwegs ist, regelmäßig Sport treibt und zahlreiche Freunde hat. Kaum vorstellbar, dass sie statt der jetzigen 57 einmal 187 Kilogramm gewogen hat und unglücklich in ihrer Wohnung vereinsamte.

«Wir waren als Babys schon so fett, dass wir nicht aus den Augen schauen konnten», erzählt Irmgard H. von ihrer Familie, die in ärmlichen Verhältnissen lebte. Die Mutter war noch stolz auf ihre wohlgenährten Kinder, die als Erwachsene allesamt über 150 Kilogramm auf die Waage brachten.

Anfangs störte Irmgard H. sich nicht an ihrem Gewicht, aber dann kamen die Probleme: «Diese Schlafapnoe, Asthma, beide Knie sind schon operiert, ich hatte drei Bandscheibenvorfälle, Gichtanfälle», zählt sie auf. Im Krankenhaus war der OP-Tisch zu klein, das Blutdruckmessgerät passte nicht um den Arm.

Am Arbeitsplatz wurde auf sie zwar wie auf eine Behinderte Rücksicht genommen, aber privat häuften sich die Schwierigkeiten. Zum Autofahren brauchte Irmgard H. eine Ausnahmegenehmigung, weil sie den Gurt nicht mehr schließen konnte. Zum Laufen benötigte sie einen Gehwagen, im tiefsten Winter war sie barfuß in den Schuhen - Sockenanziehen ging nicht mehr. «Es war furchtbar. Wildfremde Leute haben mich auf der Straße fotografiert», berichtet sie von den zahllosen Kränkungen. «Menschen sind sehr rücksichtslos. Man kriegt das ja mit, die Blicke, das Getuschel, das gegenseitige Anstoßen.»

Drei Mal hungerte sich Irmgard H. auf Normalgewicht herunter, konnte dieses Niveau aber nie halten. «Essen war Belohnung, Essen stand für Frust, Essen stand für Ärger, für Langeweile, für alles», erinnert sie sich. «Irgendwann ging es nicht mehr. Da war ich 55.» Sie ließ sich den Magen zu einem Bypass zusammenschneiden, später in fünf großen und mehreren kleinen Operationen die weit herabhängenden Hautlappen straffen - und ist seitdem ein völlig neuer Mensch.

«Ich genieße jeden Tag. Ich war so ein trauriger Mensch», erzählt die Nürnbergerin, die inzwischen Rentnerin ist. «Ich konnte so viele Sachen nicht machen - jetzt habe ich ein Riesen-Nachholbedürfnis!» Dass sie ihr Leben lang viel Disziplin walten lassen muss, um nicht trotz der Operation wieder zuzunehmen, ist ihr bewusst. Auch Chirurg Horbach betont: «Die OP ist ein Hilfsmittel, der Steigbügel. Aber die Patienten müssen das Pferd reiten und die Strecke selbst zurücklegen.» von Elke Richter, dpa

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