Qual der Wahl: Die Freiheit nach der Schule macht vielen zu schaffen

Mit 18 stehen einem alle Wege offen. Man hat aber auch die Qual der Wahl. Und wenn alles möglich scheint, weckt das leicht überhöhte Erwartungen. Kinder, Traumjob, Leistungssport - von allem das volle Programm zu wollen, ist kein Konzept, das aufgeht. 

Berlin (dpa/tmn) - Der jüngste Sohn wird Pastor, der älteste tritt in Vaters Fußstapfen. Es gab Zeiten, in denen der Lebenslauf schon bei der Geburt feststand. Das ist heute zum Glück anders: Jugendliche haben so viele Freiheiten wie kaum eine Generation vor ihnen. Zum Glück? Da sind sich die Experten nicht so sicher. Denn zu viel Freiheit kann einem als Teenager auch ganz schön zu schaffen machen.

«Jeder Mensch hat tief im Innern eine Lebensvision», sagt der Psychologe und Buchautor Rolf-Ulrich Kramer aus Beverungen (Nordrhein-Westfalen). Ist ihm die nicht bewusst, könne das unglücklich machen. «Und noch schlimmer ist es, wenn er das Unglück hat, dass er sein Abi mit 1,0 macht.» Zu viele Optionen machen das Entscheiden oft nur schwerer.

Familie? Karriere? Hobby? Was Jugendlichen am wichtigsten ist, wissen viele nach dem Schulabschluss nicht. Im Gegenteil: Lieber wollen sie die gestiegene Zahl an Lebensoptionen auch ausprobieren. Das zeigt der Trendmonitor 2011, eine Umfrage des Zukunftsinstituts im Auftrag der Versicherung Heidelberger Leben unter 16- bis 35-Jährigen zu ihren Lebensentwürfen. Von einer «Pluralisierung der Lebensstile» ist im Ergebnisbericht die Rede. Die Generation habe eine Sowohl-als-auch-Mentalität. Nur noch wenige träfen eine Entweder-oder-Entscheidung. Außerdem verschiebe sich der Zeitpunkt einer solchen Entscheidung nach hinten.

Aber bis wann muss man sich entschieden haben? «Den ultimativen Zeitpunkt gibt es nicht. Das ist ein Prozess», sagt Anja Kriesch vom Berufsverband Deutscher Psychologen in Berlin. Gedanken zum Berufswunsch sollten sich Realschüler ungefähr ab der achten und Gymnasiasten ungefähr ab der neunten oder zehnten Klasse machen. «Aber nicht nur überlegen, sondern auch machen», rät Kriesch. Ein Nebenjob oder Ehrenamt brächten praktische Erfahrungen. So ließen sich manchmal schon früh zentrale Fragen klären: Liegt mir die starre Struktur eines Nine-to-five-Jobs? Oder bin ich so selbstdiszipliniert, dass ich mich anders organisieren kann?

Was will ich? Was kann ich? Das sind Fragen, die manchmal andere besser beantworten können, sagt Kriesch. Eltern oder Freunde könnten oft eine hilfreiche Einschätzung der eigenen Fähigkeiten abgeben. Wer lieber sich selbst fragt, muss ehrlich sein. Ist mir Geld, Anerkennung oder Familie am wichtigsten? Arbeite ich gern in Gruppen oder lieber allein? Und schließlich: Wie sieht mein Leben in 20 Jahren aus? Auch wenn es schwerfällt - diese Vision sollten sich Jugendliche so konkret wie möglich vor Augen führen. Wie sieht in 20Jahren mein Zuhause aus? Haus oder Wohnung? Stadt oder Dorf? Und wer wartet da auf mich? Das alles hält man am besten in einer Liste fest.

Dabei gilt: je konkreter, desto besser. Kriesch rät: «Ruhig Termine setzten. Bis wann will ich was erreicht haben?» Wer Meilensteine schon in der neunten Klasse festlegt, kann viel erreichen. Kriesch nennt das den Turbo-Effekt: «Wenn ich weiß, wofür ich arbeite und welche Abschlussnote ich dafür zum Beispiel brauche, kann ich in der neunten Klasse noch alles reißen.» Aber Achtung: «Der Meilenstein-Plan entwickelt sich weiter.»

Um sich bei einem solchen Plan nicht zu verzetteln, heißt es, Prioritäten zu setzen. «Aber Jugendliche haben ein Riesenangebot», sagt Kriesch. Und daraus dürfen sie auch schöpfen. Es sei durchaus möglich, verschiedene Ziele zu verfolgen - solange sie einander nicht entgegenstehen. Und das Riesenangebot dürfe einen nicht überfluten: «Ich gucke ja nicht zuerst, was es alles so gibt», sagt die Psychologin. Jugendliche müssten als Erstes ihr eigenes Profil festlegen und dann nach passenden Angeboten schauen. «Das ist die Suchmaske. Da hat man den Rahmen, in dem man sich bewegen kann.»

Dass es nur eine Priorität im Leben gibt, hält auch Andreas Steinle vom Zukunftsinstitut für falsch. Vielmehr gebe es zwei wesentliche Prioritäten: Familie und Beruf. Das bestätigen die Ergebnisse des Trendmonitors. Es habe Zeiten gegeben, in denen beides nicht vereinbar war. «Aber die gesellschaftlichen Paradigmen haben sich geändert», sagt Steinle. Das zeige sich an neuen Vorbildern: «Eine Ministerin geht in Elternschutz. Das gab es früher nicht.»

Das Problem der Jugend sei der Mangel an Initiation, sagt Rolf-Ulrich Kramer. Es gebe keine formelle Einführung in die Gesellschaft, wie das in vielen anderen Kulturen üblich sei. «Das kann dazu führen, dass man nicht weiß, wer man ist und wo es langgeht für einen», erklärt Kramer. «Die Freiheit, die wir heute haben, kann von den Menschen gar nicht genutzt werden.»

Kramer ist der Ansicht, dass Ausklinken nach der Schule dabei hilft, sich über die eigene Lebensvision klarzuwerden. «Wer die Nase nicht auf der Fährte hat, sollte die Welt erkunden.» Ungefähr ein Jahr lang sollte er auf Abstand gehen. Viele beschlössen heute vorschnell, einfach alle üblichen Karriereziele anzustreben, die etwa die Werbung einem vermittle.

Diese stupide «Karrieregeilheit» entspreche oft aber gar nicht dem innigsten Wunsch eines Menschen, sagt Kramer. «Wenn der Karrierewunsch nur eine von der Werbung verursachte Flause im Kopf ist, geht das nicht gut. Es kommt darauf an, wie authentisch das ist.» So könnten Menschen durchaus echte Freude an einer steilen Karriere haben. Wer in einem Job, den er wirklich mag, einen Erfolg nach dem anderen einfährt, mache alles richtig, sagt der Psychologe. «Dann ist das offenbar so sehr sein Ding, dass es dumm wäre, etwas anderes zu machen.» von Johanna Uchtmann, dpa

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