Millionenpoker für Pharmamarkt startet - es geht um Leben und Tod

Berlin (dpa) - Die Wende auf dem Pharmamarkt in Deutschland beginnt in einem verschachtelten Gebäude hinter der Berliner Prachtmeile Unter den Linden. Zum Spitzenverband der Krankenkassen kommen an diesem Montag erstmals die Vertreter eines Pharmakonzerns, um über den Erstattungspreis eines neuen Medikaments zu verhandeln. Es geht um viele Millionen Euro allein für dieses eine Medikament.

Mehr als acht Milliarden könnten laut jüngstem Arzneiverordnungs-Report pro Jahr zugunsten der Beitragszahler und zulasten der Pharmabranche in Deutschland gespart werden. Rund 32 Milliarden Euro pro Jahr gaben die Kassen zuletzt für Arznei aus. «Bislang werden viele Medikamente auf den Markt gebracht, in denen nur Moleküle variiert sind, ohne für den Patienten nützlich zu sein», sagt der Vizechef des Kassen-Spitzenverbands, Johann-Magnus von Stackelberg.

Nun soll laut Stackelberg strikt nach zwei Kriterien verhandelt werden: «Wie viel kostet das offizielle Vergleichsmedikament, das es bereits gibt? Und um wie viel größer ist der Zusatznutzen des neuen Produkts?»

Die Branche schaut mit Hochspannung auf die ersten Verhandlungen. Der britisch-schwedische Pharmakonzern AstraZeneca verspricht sich von seinem Blutverdünner Ticagrelor (Brilique) viel. Es hat das Zeug zu einem Mittel mit dreistelligen Millionenumsätzen. Angesichts auslaufender Patente für mehrere Mittel und somit Umsatzrückgängen dreht sich bei forschenden Pharmaherstellern alles um den Erfolg eines neuen Mittels. Ticagrelor hat die ersten Hürden genommen.

Der unabhängige Gemeinsame Bundesausschuss, das oberste Gremium von Ärzten, Kassen und Kliniken, stellte im Dezember fest, dass das Mittel bei rund 80 Prozent der Patienten mit Akutem Koronarsyndrom, also unter anderem mit Herzinfarkt, mehr bringt als gebräuchliche Mitteln wie Clopidogrel. Für bestimmte Patientengruppen fiel das Urteil negativ aus. Von 67 Patienten profitiert ein Patient zusätzlich im Verhältnis zu den herkömmlichen Mitteln. Wenn 1000 Herzinfarkt-Patienten über ein Jahr hinweg mit dem neuen Mittel behandelt werden, gibt es 11 Todesfälle weniger.

Die Kernfrage liegt zwischen Ethik, Mathematik und dem Poker hinter verschlossenen Türen: Wieviel Geld wird durch so einen Mehrwert gerechtfertigt? Es gibt bereits einen Preis für das neue Mittel - nach Angaben aus Kassenkreisen liegt der um mehr als 800 Euro über dem für bisherige Mittel pro Jahr und Patient. AstraZenecakommt auf eine geringe Differenz.

Klar ist: Je nach Verhandlungsergebnis geht es um etliche Millionen mehr oder weniger Umsatz – und mehr oder weniger in den Taschen der Beitragszahler. Kein Wunder, dass der AstraZeneca-Verhandlungsführer sagt: «Wir sind gespannt, was uns erwarten wird.» Notfalls entscheidet nach einem halben Jahr eine Schiedsstelle.

Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Für 21 Mittel stehen 84 Verhandlungstermine fest. Doch der Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses, Rainer Hess, meint, die von der Regierung angekündigten Einsparungen durch ihre Reform von rund zwei Milliarden Euro pro Jahr seien erst bei einer Bewertung der schon länger auf dem Markt befindlichen Mittel nach den neuen Regeln realistisch. Wann ist dies soweit? Das könne man nicht einschätzen. Stackelberg kündigt an, sein Verband stelle bald die ersten Anträge für diese Präparate.

Viele in der Pharmabranche machen sich Sorgen. «Einen großen Effekt erwarte ich dadurch», sagt Stackelberg, «dass Medikamente erkannt werden, die keinen Zusatznutzen haben.» Dann sinken Erstattungspreise schlagartig, oder die enttäuschenden Mittel kommen gar nicht erst auf den Markt. In ersten Fällen hielt die Industrie ihre Mittel schon zurück.

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